Anne Fäser // As Times Goes By – Zeit im Werk von Nuno Vicente.

 „Gibt es eigentlich die Zeit? Oder ist die Weise, das, was wirklich ist, als in der Zeit zu denken, an die spezifische Endlichkeit des Bewusstseins gebunden, und ist Zeit daher (neben dem Raume) eine apriorische Anschauungsform der Subjektivität, wie Kant lehrt, oder wie immer? Die Versuchung, gegenüber dem, was wirklich ist, die Zeit als etwas zu denken, das man sich aufgehoben denken kann, wandelt wohl jedes denkende Gemüt an und mehr noch als beim Raum, der im Blick auf das Gegenwärtige selbst gegenwärtig und damit von unanfechtbarer Realität scheint.“ (1)


Ist Zeit etwas Unabhängiges und für sich Seiendes? Oder ist sie immer abhängig von dem Zusammenspiel von Körper und Raum und dessen Wahrnehmung? So oder so ist die Frage nach der Zeit eng mit der Reflexion über Materie und dem Dasein verbunden. Die Einsteinsche Relativitätstheorie beschreibt Raum (bzw. Materie im Raum) und Zeit als ein untrennbar zusammengehöriges Gebilde. Schwere Objekte krümmen den Raum und verlangsamen den Zeitfluss, zudem unterliegen schnell bewegte Objekte einem langsameren Zeitfluss als weniger schnell bewegte.(2) Zeit verstreicht demnach nicht überall gleich schnell. Stephen Hawkins folgert aus der Untrennbarkeit von Raum und Zeit weiter, dass ein Zeitfluss ohne Materie nicht vorstellbar sei. Insofern erübrigen sich die Fragen nach der Zeit als Maßstab für Veränderungen ohne das Vorhandensein jeglicher Materie.
Ohne Materie gäbe es keinen Grund zur Annahme der Existenz der Zeit, da sie sich nicht bemerkbar machen könnte.(3) Zudem verfügt das Universum selbst, so hat die moderne Physik nachgewiesen, über keinen ruhenden Bezugspunkt, der die Bestimmung eines universell gültigen Zeitmaßes erlauben würde. So ist Zeit – obwohl in der Gesellschaft objektiv nach standardisierten Systemen und Vorstellungen festgelegt – ein Phänomen, welches im Bewusstsein des Betrachters in relativer Abhängigkeit von Raum und einer persönlichen, vom Standpunkt abhängigen Perspektive entsteht. Das Wahrnehmen von Zeit beschränkt sich wohl auf die Gegenwart. Allerdings ist Gegenwart selbst schwer zu bestimmen. Eine gegenwärtige Bewegung des Körpers im Raum ist in ihrer Prozesshaftigkeit stets in die Zukunft gerichtet und durch die Erinnerungsfähigkeit ebenso von der Vergangenheit bestimmt. Das könnte Gadamer auch mit der „Endlichkeit des Bewusstseins“ gemeint haben, wenn sich allein der gegenwärtige Augenblick durch ein quasi unmittelbares Wahrnehmen auszeichnet, während sich Vergangenes in Form von Empfindungen und Gefühlen rekonstruiert und sich Zukunft zunächst einmal als Handlung auszeichnet. Einen ähnlichen Gedanken entwickelt Henri Bergson. Er sagt, dass „[...] die unmittelbare Vergangenheit insofern sie wahrgenommen wird Empfindung [ist / AF] [...] und die unmittelbare Zukunft ist, insofern sie determiniert ist, Tätigkeit oder Bewegung. Meine Gegenwart ist also zugleich Empfindung und Bewegung; und da meine Gegenwart ein unteilbares Ganzes bildet, muß diese Bewegung sich dieser Empfindung anschließen und sie als Handlung fortführen. [...]“ [4]
Demnach werden das Vergehen von Zeit und damit auch die menschliche Endlichkeit durch Handlung vollzogen, die von materiellen (körperlichen) zu immateriellen (z.B. Empfindungen) Zuständen überführt. Die Gegenwart ist wie eine Schwellensituation zwischen diesen beiden Zuständen. Die Erfahrung des Übergangs verschränkt die materielle Existenz mit Fragen nach dem Sein an sich.
Der Künstler Nuno Vicente scheint in seinem Werk immer wieder von ähnlichen Überlegungen zu erzählen. In vielen Arbeiten wird Zeit als ein Faktor für die Erfahrung von Materie relevant. Es sind Momente des Veränderns oder auch Auflösens von Materie, welche sich gerade an die erwähnte Grenzsituation annähern. Der Zeitbegriff ist dabei untrennbar an Veränderung sowie Bewegung im Raum gebunden, durch deren Hilfe das menschliche Bewusstsein Sinneseindrücke erlebt und damit subjektiv-menschliche Bedingungen der Welterkenntnis erfahrbar werden. Dabei bedient sich Vicente neben einer reduzierten Ästhetik ebenso metaphorischen Mitteln, mit denen er einen Übergang vom Materiellen zum Immateriellen, aber auch eine Aufhebung physikalischer Gesetze zu ästhetischen Erfahrungen transformiert.
In der Arbeit „Dropping time onto the matter“ (Videoloop, 2010) ist Zeit durch das zunehmende ‚Erscheinen’ und ‚Verschwinden’ der Materie Lehm wahrnehmbar. Dabei scheint gerade das menschliche Handeln die physische Präsenz bzw. Absenz des Materials durch seine Bewegung – also das Hochziehen und Wegdrücken des Materials – zu beeinflussen. Als ein Werden und Vergehen lesbar werden Fragen nach Zeit und Materialität in Bezug auf Handlung und Prozess gestellt. Entsprechend der anfangs dargelegten Abhängigkeit zwischen Zeit und Materie wird in diesem Video Zeit durch den Loop der Bewegung bzw. Handlung wahrnehmbar und lässt gleichzeitig eine Materialität erfahren, die wiederum durch das Auftauchen und Verschwinden Übergänge des Daseins thematisiert. So werden generelle Momente der Zeitgebundenheit der menschlichen Existenz gezeigt. Nuno Vicente aber verkehrt die Handlung auch auf ironische Weise ins Gegenteil. So entsagt der hier gezeigte (De)Materialisierungsprozess einer logisch erklärbaren Physik. Die menschliche Bewegung scheint nicht nur in ein Vergehen, sondern auch Entstehen eingebunden zu sein, so als wäre es möglich die Zeit zurückzudrehen und das ‚Verschwinden’ der Materie aufzuhalten.
Auch im Video „Everyday before the sunshine“ (Videoloop, 2010) wird zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der eingebundenen Materie – hier des menschlichen Körpers – gewechselt. Zu sehen ist ein Mann (der Künstler selbst), auf dem Boden liegend. Langsam wird eine weitere Person eingeblendet, welche vor dem Liegenden kniet und mit seinen Armen Bewegungen ausführt, die an Erste-Hilfe-Maßnahmen erinnern. Diese Handlung aber scheint erfolglos zu sein, denn die liegende Person löst sich langsam auf, indem sie ausgeblendet wird. Das wechselnde Verschwinden bzw. Ausblenden der Körper im Film zeigt die Übergänge zwischen Leben und Tod, zwischen Dasein und Sichauflösen auf. Damit werden in metaphorischer Weise grundsätzliche Prozesse des Lebens angedeutet, die der Mensch nicht steuern kann. Auffallend ist auch, dass die beiden Körper identisch, also ein- und dieselbe Person sind, so als würde es nicht nur um eine materielle/körperliche Veränderung des Zustandes, sondern auch um eine Bewusstseinsveränderung gehen, welche die Aussage von Bergson auf seltsame Weise wieder aufgreift. In der einen Figur, die sich in verschiedenen Erfahrungsbereichen befindet, scheinen sich die verschiedenen Zeitzustände zu verbinden: die Zukunft in der Handlung, die vollzogen wird; die Vergangenheit in der Empfindung des Verlustes und der Trauer, die aus der Erinnerung entsteht und in der Körpersprache der knienden Figur ausgedrückt wird; und schließlich die Gegenwart, in der die Schwelle beider Zustände zusammenfließen – hier angedeutet in der Bildüberlagerung der Körper. Die Einsicht des Individuums, in den nicht aufzuhaltenden Verlauf des Vergehens eingebunden zu sein, ist hier auch an die Erfahrung von Körper in einem Raum-Zeit-Kontinuum gebunden.
Es sind einfache Bilder, die Nuno Vicente sucht, um damit komplexe, umfassende Fragen der Existenz zu stellen. Häufig bedient er sich ebenso einfachen Materialien, wie Lehm, Stein oder Wasser, aber ebenso performativen Ansätzen, die er in metaphorische Zusammenhänge stellt. Beeinflusst von der Arte Povera, Concept Art und auch Joseph Beuys ist für den Künstler nicht das endgültige Werk entscheidend. Vielmehr entstehen seine Arbeiten erst durch den Denk- und Erfahrungsprozess des Betrachters. Das Spiel mit der Prozesshaftigkeit, mit der Fragilität und Flüchtigkeit elementarer Stoffe verbindet sich in seinen Werken ganz selbstverständlich mit einer sinnlichen Präsenz und poetischen Ausstrahlung der eingebundenen Materialien.
In der Arbeit „Ballons filled with hope, faith, love, doubt, courage, sadness, will, desire, ideal.“ (Ballons, Rahmen, Passepartouts. Größe variabel, 2009) sind es Fragmente von neun zum Platzen gebrachte Luftballons, die er durch die Art der Zusammenstellung ästhetisch überhöht. Einzeln gerahmt und in eine symmetrische 3 x 3 Reihung gebracht ist diese formale Entscheidung des Künstlers ist nicht allein der Auseinandersetzung mit minimalistischen und konzeptuellen Tendenzen in der Kunst geschuldet, sondern darüber hinaus auch Teil einer Sichtbarmachung verschiedener Zustände, die über die reine Präsenz der Objekte hinausgeht und eine quasi irrationale Erweiterung des Materials darstellt. Die Ballons wurden mit Hoffnung, Vertrauen, Liebe, Zweifel, Traurigkeit, aber auch mit Wünschen und Begehren gefüllt. Nicht einfach nur die Luft als Materie ließ die Objekte zerplatzen, sondern emotionale und affektive Erfahrungen, welche die menschliche Sensibilität zum Ausdruck bringen. Hinzu kommt wieder der Moment von Zeit, das im Zerplatzen der Materie und der damit einhergehenden Veränderung des Zustandes des Materials erscheint. Gerade diese Transformation lässt erahnen, dass nicht das Material selbst das Wesentliche ist, sondern das, was dieses im immateriellen Sinne enthalten kann und damit die Existenz der Materie erweitert. Es sind Provokationen des Imaginären, die Nuno Vicente nutzt, um darin auch Grundlagen der Selbstidentifikation des Betrachters zu befragen. Jene entsteht auch aus dem Begehren, welches sich bezogen auf das Reale an ein Ideal-Ich anzunähern versucht. Mit dem Material (hier den Luftballons) auf realer Ebene und den darin versinnbildlichten Emotionen wie Hoffnung, Vertrauen, Liebe, Zweifel oder Traurigkeit, wird der Betrachter zumindest in einem abstrakten Gedankenspiel mit seinem eigenen Standpunkt und der Dimension seiner ganz persönlichen Wünsche und Ängste konfrontiert.
Ein Apfel an einer Angelschnur wandert mit jedem Klick nach oben. Sieben Bilder lang dauert die Aufwärtsbewegung bis sie in einer Endlos-Schleife von vorne beginnt. Die Arbeit „Return: a step back through Newton for a new conception of the universe“ (3D View Master disk stereographic, wire hook. Variable dimensions. 2009) ermöglicht eine neue Perspektive auf die Bewegung von Materie, die sich hier entgegen der Schwerkraft verhält. Newton beschreibt in seiner „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ Gravitations- und Bewegungsgesetze, welche den Grundstein für die klassische Mechanik legte. Nuno Vicente setzt gerade wieder durch einen simplen mechanischen Trick die Gesetze Newtons außer Kraft und schafft in der symbolischen Umkehrung des wissenschaftlichen Wissens und seiner Paradigmen eine Distanzierung zum scheinbar Objektivierbaren sowie einer allgemein gültigen Realität. Eine neue, utopische Hypothese der Wirklichkeit konfrontiert den Betrachter mit seinem individuellen Bewusstsein hinsichtlich eines Raum-Zeit-Kontinuums.
Nuno Vicentes Arbeiten sind Metaphern. Sie lösen Assoziationen, Erinnerungen und Erfahrungen aus, welche sich an generelle Fragen der Existenz annähern und dabei stets die Wichtigkeit des Individuums und seiner individuellen Perspektive betonen. Gerade der vielschichtige Verweis auf Zeit und ihre Wahrnehmung in seinem Werk, ermöglicht eine Diskussion über das Verhältnis von Realität und Imagination. Das, was das Wesen der Dinge ausmacht, entsteht in der Abhängigkeit der Materie von Zeit, Raum und dem Standpunkt der Betrachtung.
You must remember this. A kiss is just a kiss. A sigh is just a sigh. The fundamental things apply. As time goes by.[5]

[1] Hans-Georg Gadamer, Über leere und erfüllte Zeit, 1969, In: Walther Ch. Zimmerli, Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993
[2] Stephen Hawkins, Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek 1991
[3] Stephen Hawkins, Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek 1991
[4] Henri Bergson, Das Wesen der Gegenwart, in: ders., Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991
[5] As Time Goes By, Musical-Song von Herman Hupfeld, 1931

Anne Fäser, 2010.